Mit den Augen eines Kindes

Die warme Sommersonne strahlte auf die Erde und erwärmte die weiten Felder und Wälder des kleinen Dörfchens namens Seeg. Als die Mädchen, vier an der Zahl zu dem kleinen Bach am Fuße des kleinen Wäldchens liefen, hörte man ihr ausgelassenes Lachen. Jede hatte etwas zu erzählen und so sprachen sie alle durcheinander, das sich wie ein lebendiger Bienenkorb anhörte. Sie waren acht und genossen die beginnende Ferienzeit, nicht ahnend, wie sorgenvoll ihr Leben noch werden würde.

Luisa lief als letzte. Sie war nicht besonders gesprächig. Sie war still und hatte es sich schon lange angewöhnt die Menschen zu beobachten und ihre Körpersprachen zu lesen. So wusste sie zum Beispiel, dass ihre Oma heute früh ziemlich starke Kopfschmerzen wegen des um schwingenden Wetters hatte, weshalb Luisa sich selbst ihr Frühstück machte und sich leise an den Küchentisch setzte, um die Oma nicht noch mehr zu stören.

Luisas Eltern schickten sie gern schon zu Beginn der Sommerferien zu ihren Großeltern aufs Land, weil sie nicht so viel Urlaub bekamen und nicht so lange bei der Arbeit fehlen durften.

»Du weißt doch wie wichtig unsere Arbeit ist, Luisa«, sagte ihre Mutter immer mit strengem Ton, wenn Luisa sich eigentlich nach ihrer Nähe sehnte.

Oft wünschte sie sich ein Geschwisterchen, aber ihre Mutter war nicht mehr bereit ihren Job dafür aufs Spiel zu setzten, so wie sie das immer wieder erläuterte.

»Dafür liebe ich zu sehr meine Freiheit, Luisa«, sagte sie und ließ es Luisa immer wieder spüren, indem sie sie auf ihr Zimmer zum Spielen schickte.

Luisa war froh bei ihren Großeltern zu sein, denn da hatte sie wenigstens Freunde und ihre Oma, die sich immer Zeit für sie nahm. Nur heute schlich Luisa sich still und heimlich aus dem Haus und hinterließ nur einen kleinen Notizzettel mit der Nachricht „Sie wäre mit den Mädchen am Bach.“

Doch als sie hinter ihren Freundinnen herlief, fast unsichtbar, konnte sie das Gefühl nicht loswerden, es würde ein sehr wichtiger Tag für sie werden.

»Du kriegst mich nicht Mia!« rief Emma und beschleunigte noch ein Stückchen mehr, um ihre Freundinnen abzuhängen.

»Ich habe dich gleich Emma! Du entkommst mir nicht«, entgegnete Mia.

Immer mehr entfernten sich die Mädchen von Luisa. Es machte ihr nichts aus. Sie kannte den Weg und war sogar etwas froh darüber.

»Komm schon Luisa. Beeil dich ein bisschen«, Greta blieb einen Augenblick stehen, damit Luisa sie einholen konnte.

»Ist schon gut, du musst nicht auf mich warten. Ich komme nach«, entgegnete Luisa.

»Na schön, dann bis gleich«, rief ihr Greta zu, während sie ihre Schritte immer mehr beschleunigte, bis sie dann völlig zwischen den hohen Bäumen verschwand, die etwas Schatten an diesem heißen Sommertag spendeten.

Luisa hatte nicht vor sich ihr anzuschließen. Sie hob ihren Kopf und ihr Blick streifte den makellosen, blauen Himmel. Ein Falke drehte seine Kreise und hin und wieder hörte sie seine warnenden Rufe.

Am Wegesrand, den Luisa jetzt passierte, wuchs rechts und links hohes Gras, überseht von einer bunten Vielfalt an Feldblumen. Rot, lila und gelb, gesprenkelt durch weiß und orange. Da wo die Sonne ihre Strahlen in voller Macht auf die Erde scheinen ließ, leuchtete das Gras golden auf, wie eine Explosion von Farben auf einem Gemälde eines verrückten Künstlers.

Luisa blieb stehen und betrachtete die Schönheit der Natur. Sie zog den Geruch frischer Feldblumen ein und der Sonne auf ihrer Haut.

Die Stimmen ihrer Freundinnen entfernten sich immer mehr, doch Luisa störte sich nicht daran. Sie würde sie schon bald einholen und sich so wie sie eine Abkühlung in dem kleinen Bach verschaffen.

Langsamen Schrittes setzte sie ihren Weg fort, nachdem sich der Falke verzog und die Sonne ihre Intensität erhöhte. Nicht einmal ein kleines Lüftchen wehte. Die Luft knisterte vor Hitze und der Wald stand vollkommen still dar.

Langsam lies Luisa ihren Blick schweifen. Am Wegesrand, kurz vor dem Waldeingang, entdeckte sie etwas, das ihr Interesse erweckte. Es war in der Erde vergraben und nur ein Stück, vielleicht von dem Wind oder einem Tier freigelegt, schaute heraus.

Behutsam strich Luisa die Erde beiseite. Noch konnte sie nicht erkennen, was es war. Von Natur aus neugierig, grub sie immer tiefer und erkannte schon nach einiger Zeit eine kleine Puppe. Es war keine Barbie, oder eine andere teure Puppe, die ihre Mutter ihr immer zum Geburtstag oder zu Weihnachten schenkte. Die Puppe sah sehr einfach aus, doch Luisa erkannte sofort wie einzigartig sie war.

Sie holte die verdreckte Puppe aus der Erde und klopfte sie vorsichtig ab. Die Haare waren schwarz und strohig und der linke Arm fehlte komplett. Vielleicht hat man sie deshalb hier liegen lassen, dachte Luisa. Die Kleidung der Puppe war zerrissen und verblichen von den Jahreszeiten. Vermutlich lag sie schon sehr lange dort, verborgen und verlassen.

Liebevoll drückte Luisa ihren Fund an ihre Brust. Fast schon eilig und voller Freude lief sie zu dem Bach, um ihren Freundinnen den Schatz zu präsentieren, den sie gefunden hat. Sie verstand selbst nicht, warum diese alte Puppe so einen hohen Stellenwert in ihrem Leben einnahm. Es war ihr in diesem Augenblick auch nicht wichtig. Alles was zählte war das Gefühl, das sie jetzt ganz tief in ihrem Herzen empfand. Es war Liebe.

»Seht mal was ich gefunden habe!« rief sie fröhlich ihren Freundinnen zu und hielt die Puppe in die Höhe.

Mia und Greta streckten neugierig ihre Köpfe aus dem Wasser und Emma, die am Ufer des Baches saß, erhob sich und trat auf Luisa zu.

»Zeig mal her. Was hast du da?« fragte sie.

»Eine alte Puppe. Ich habe sie am Waldrand gefunden«, antwortete Luisa unbeschwert.

Emma beugte sich über die Puppe und krümmte ihre Nase. »Igitt, sie sieht ja scheußlich aus«, sagte sie.

»Findest du?« fragte Luisa leise. Ihre Stimme brach ab.

»Ja. Du solltest die wegschmeißen.« Emma drehte sich um und sprang ins Wasser.

Wie ein Messerstich hallten ihre Worte in Luisas Kopf nach.

Wegschmeißen. Warum? Sie war doch so schön. Warum erkannten das ihre Freundinnen nicht?

Mit Tränen in den Augen lief Luisa los. Immer schneller. Die Sicht von der Feuchtigkeit betrübt. Den Blick auf den kleinen trockenen Weg gerichtet, bis sie atemlos vor dem Haus ihrer Großeltern stand.

»Was ist denn passiert Kleines?« fragte die Großmutter besorgt, als sie ihre Enkelin verdreckt und mit einem unverkennbaren Gegenstand in der Hand vor der Haustür stehen saß.

Luisa sagte nichts, sie streckte nur ihre Hände der Großmutter entgegen und reichte ihr die Puppe.

»Komm erstmal herein«, schlug die alte Dame vor und nahm den Gegenstand entgegen. »Möchtest du Milch und Kekse?« fragte sie. »Immer, wenn deine Mutter Kummer hatte, habe ich ihr warme Milch mit Keksen gemacht.« Warme, freundliche Augen sahen Luisa an.

Als könnte man alle Probleme mit Keksen lösen.

Luisa nickte. Nichts wäre jetzt für sie schlimmer, als die Oma zu enttäuschen.

Die Oma holte die Milch aus dem Kühlschrank und die Kekse aus der Vorratsdose und setzt sich Luisa gegenüber.

»Komm wir waschen sie erstmal«, sagte sie und streckte die Hand aus, um Luisa die Puppe abzunehmen.

Nach einem ordentlichen Bad und neuer Kleidung sah die alte Puppe gar nicht mehr so furchterregend aus.

»Die Mädchen fanden sie furchtbar«, sagte Luisa schließlich. »Ich verstehe nicht warum.«

»Nun vielleicht weil sie nicht mehr so schön aussieht.«

»Ja, aber ich finde sie jetzt wunderschön.«

»Du hast einen ganz besonderen Blick für die Dinge Luisa. Das ist eine Gabe. Du siehst die Menschen, so wie sie sind und auch diese Puppe. Du erkennst nur das Schönste in jedem von uns, auch wenn es ganz tief verborgen ist, sowie diese Puppe unter dem vielen Dreck und alter Kleidung.«

»Niemand wollte sie, weil sie kaputt ist.«

»Ja, so ist das auch im Leben. Wir denken oft, dass uns niemand mag oder niemand will, weil wir scheinbar, durch die vielen Erlebnisse in unserem Leben kaputt sind. Wir fühlen uns dreckig und ungeliebt und doch gibt es Menschen wie dich, die unsere wahre Schönheit und unseren wahren Wert erkennen.« Die Großmutter strich das rosa Kleid, das sie gerade frisch der alten Puppe angezogen hatte, glatt und reichte sie Luisa. »Deine Freundinnen fanden sie hässlich und wollten sie nicht haben. Auch ein anderes Mädchen, dem sie einmal gehörte wollte sie nicht mehr, aber du meine Kleine hast heute durch genau diese Puppe eine wichtige Lektion für dein Leben gelernt.«

»Und welche?«

»Unsere wahre Schönheit und unser Wert liegt nicht in unserem Äußeren, sondern in unserem Inneren.«

Luisa nickte. Noch verstand sie nicht genau, was ihre Großmutter damit meinte, aber sie spürte, dass diese Worte eine sehr wichtige Botschaft für ihr Leben sein werden.

Es polterte in der Küche und der Lärm entriss die beiden aus ihren Gedanken.

»Na ihr zwei, was macht ihr hier?« Es war der Großvater, der gerade mit verschmierten Händen aus der Werkstatt kam. »Ich fürchte der alte Karren lässt sich nicht mehr reparieren.

„Der alte Karren“ war sein absolutes Lieblings Auto, ein 1965er Oldtimer.

»Da drin habe ich noch mit deiner Oma rumgeknutscht«, lachte er und sah seine Frau liebevoll an.

Luisa lächelte traurig.

Erst jetzt bemerkte er die alte Puppe in Luisas Hand.

»Zeig mal her. Was hast du da?«

»Ich habe sie im Wald gefunden.« Luisa reichte die Puppe ihrem Großvater.

»Hat sie auch schon einen Namen?«

Luisa schüttelte den Kopf.

»Na das lässt sich sicherlich ändern und reparieren können wir sie auch noch.«

»Nein Opa, wir müssen sie nicht reparieren. Sie ist perfekt, so wie sie ist.«

Luisa lächelte ihre Großmutter verschwörerisch an. Jetzt verstand sie ihre Worte.

Auch wenn wir an einigen Tagen denken, dass wir kaputt sind und nichts und niemand uns reparieren kann, wird irgendwann ein Tag kommen, an dem wir erkennen können, wie wertvoll wir sind.

Wir erkennen, dass alles, was uns in unserem Leben widerfahren ist, uns genau hierher geführt hat, zu diesem Augenblick.

7 Gedanken zu „Mit den Augen eines Kindes

  1. Wau so schön, so berührend , mir ist ganz warm ums Herz, und die Tränen laufen. Liebe Ellen das ist so eine wunderschön Geschichte. Ja von den Kinderseelen könnte sich so mancher was abschauen, leider in der Hektik der Zeit, werden so Gefühle übersehen. Danke für Alles.
    Ich wünsche dir viel Glück, Gesundheit und Erfolg im Neuen Jahr 2019.
    Alles Liebe Waltraud

  2. Liebe Ellen, deine Geschichte hat mich sehr berührt.
    Ich wünsche dir für das schon begonnene Jahr 2019 Gesundheit,
    Glück und Gottes Segen. Ingeborg

    1. Liebe Ingeborg,
      ich danke Dir für die lieben Glückwünsche. Ich freue mich sehr Dich mit meiner Geschichte berührt zu haben.
      Ich wünsche Dir alles Liebe und alles Gute für das neue Jahr.
      Ellen

  3. Liebe Ellen, das ist wieder mal eine wunderschöne Geschichte.
    Vielen Dank, bleib weiter inspiriert und schnek uns weitere magische Momente.
    Einen guten rutsch und viel Funkeln im neuen Jahr wünscht Dir Heike

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