Lauras Weihnachtsgeschichte

An einem dunklen verregneten Abend im Dezember sitzt Laura in ihrem Wohnzimmer. Vor ihr eine lange Liste ausgebreitet. Die Vorweihnachtszeit hat schon längst begonnen und sie hat noch nicht einmal angefangen sich Gedanken über die Geschenke zu machen.

 ›Es sind nur noch zwei Wochen bis Weihnachten. Wie soll ich das bloß alles schaffen?‹ denkt sie und sieht aus dem Fenster.

  Draußen ist es feucht und kalt, wie fast jedes Jahr um diese Zeit in Hamburg. Es fällt ihr immer schwerer sich in Weihnachtsstimmung zu versetzten. Sehnsüchtig denkt sie an ihre Kindheit. Damals war jeder Tag magisch, der Adventskalender, der jeden Tag einen Tag weniger bis Weihnachten anzeigte und dann das Fest selbst: die Lichter und der Glanz des Tannenbaums, die vielen bunten Geschenke.

  Laura säufst bei dem Gedanken daran. Jetzt mit fast dreißig ist es nur noch eine Pflichtveranstaltung: der lange Abend mit der Familie, die langweiligen Gespräche. Wie gern würde sie den Tag einfach allein zu Hause verbringen, aber das kann sie nicht. So wurde sie erzogen, pflichtbewusst, immer auf das Wohl der anderen bedacht.

Sie packt die Liste in die Tasche und macht sich auf den Weg in die überfüllte Innenstadt. Die Menschen drängen sich in die Geschäfte, gestresst und unfreundlich. Alle haben sie genauso viel auf ihrer Liste stehen, wie sie selbst. Und die Kaufhäuser scheinen überfüllt zu sein mit Dingen die niemand bracht. Grelle Werbung, die einem anpreist, genau das richtige Geschenk für ihre Lieben zu haben.

  Erschöpft und genervt verlässt Laura das Kaufhaus, vielleicht sollte sie die Geschenke doch bestellen und in die Firma liefern lassen, wenn sie, so wie fast jeden Tag in letzter Zeit, bis spät in die Nacht an ihrem Schreibtisch sitzt.
Sie geht an einem der vielen Weihnachtsmärkte zu der nächsten U-Bahnstation vorbei. Glückliche Menschen, die lachen und Glühwein trinken. Kinder die die Tauben am Ufer der Alster jagen und dabei fröhlich etwas ihren Eltern zurufen. Warum nur kann sie nicht so glücklich sein?

In den Gedanken versunken, merkt sie nicht wie sie mit jemanden zusammen stößt.

  »Schuldigung.«, murmelt sie und geht weiter.
Doch ein Gefühl, oder ein Gedanke, vielleicht auch etwas was sie noch nicht zuordnen kann, lässt sie noch einmal zurückblicken.

  Eine, in eine dünne, abgewetzte Jacke gekleidete Frau steht an der Ecke und blickte ihr nach. Sie hat eine alte Wollmütze und Handschuhe an und in der Hand hält sie fest umklammert ein Einkaufstrolley, in dem scheinbar ihr ganzes Hab und Gut verstaut ist.

Laura will weitergehen, in ihr eigenes chaotisches Leben zurück. Sie dreht sich wieder um, macht ein Schritt und bleibt doch auf der Stelle stehen. Was ist das bloß mit ihr? In Hamburg gibt es viele Obdachlose, warum kann sie nicht an dieser Frau vorbeigehen? Irgendetwas an ihr lässt Laura innehalten. Sie ist nicht älter als ihre Mutter und sieht sie jetzt freundlich an.

  »Schöne Vorweihnachtszeit wünsche ich ihnen.«, sagt die Frau und lächelt.

  ›Wie konnte diese Frau, die im tiefsten, feuchten Winter in Hamburg auf der Straße lebt, jetzt so glücklich sein?‹, denkt Laura.

Und dann hört sie sich selbst etwas sagen, was sie sich vorher nicht hätte vorstellen können.

  »Möchten sie ein Tee mit mir trinken?«

Die Frau sieht sie erstaunt an.

  »Sie meinen mich?«

Laura zögert. Was hat sie sich dabei gedacht? Sie kennt diese Frau doch gar nicht. Dann hört sie sich wieder sagen:

  »Ja, ich wohne hier in der Nähe.«

  ›Auch noch nach Hause, was ist, wenn die Frau klaut?‹, denkt sie verängstigt.

  »Wenn es ihnen nichts ausmacht, würde ich gern mitkommen. Es ist langsam sehr kalt.«

Laura nickt.

  »Nein, das macht mir nichts aus. Kommen sie.«

Plötzlich ist es so einfach, sie freut sich sogar jemandem zu helfen. Bis dahin dachte sie nicht darüber nach, dass es in dieser Zeit, wenn die Läden geöffnet haben und es jede Menge Glühwein gibt, jemandem kalt ist. Plötzlich kommen ihr ihre Sorgen so klein vor. Sie hat ein Zuhause, eine Familie, die sich auf sie freut, sie hat eigentlich alles, im Gegensatz zu dieser Frau. Warum nur kann sie die Leere in ihrem Inneren nicht füllen?

Sie biegen in eine Seitengasse ein, in der sich in ruhiger Lage und neben einem schön angelegten Park, Lauras Wohnung befindet.

Warme Luft strömt ihnen entgegen, als Laura die Eingangstür öffnet.

  »Kommen sie.«, bittet sie die Frau, die zögerlich im Treppenhaus stehen bleibt. »Hier können sie ihre Sachen ablegen.«, sie deutet auf die weiße Garderobe, die wie fast alle Möbel in Lauras Wohnung im modernden Landhausstil ist.

Wie selbstverständlich lässt sie die obdachlose Frau in ihr Heim und setzt Wasser für den Tee auf.

  »Haben sie Hunger?«

Zugegeben ist das, das Erste was ihr in den Sinn kommt. Wenn jemand auf der Straße lebte, musste er doch ständig Hunger haben.

  »Ja, ein bisschen.«, gibt die Frau zu.

Sie steht immer noch im Flur und beobachtet verlegen wie Laura das Essen zubereitet.

  »Ich habe noch ein bisschen Nudelauflauf vom Mittagessen übrig. Kommen sie.«
Laura deckt den Tisch und merkt nicht wie unwohl sich die Frau füllt. Plötzlich fällt ihr ein.

  »Wie heißen sie eigentlich? Ich heiße Laura.« Sie reicht der Frau die Hand.

Schmutzige Finger und schwarze Fingernägel kommen Laura entgegen. Sie zögert, greift die Hand dann trotzdem.

  »Ich heiße Anette.«

  »Ach wie schön Anette. Kommen sie setzten sie sich.«

Eine seltsame Freude breitet sich in Lauras Bauch aus, ganz unbekannt und ein bisschen so wie in ihrer Kindheit zu Weihnachten.

  »Wohnen sie schon lange auf der Straße Anette?«

Laura füllt den Tee in die Becher ein und setzt sich an den Tisch, wo Anette schon den Auflauf isst. Ihr fällt auf wie kultiviert Anette dasitzt und mit Messer und Gabel kleine Stücke Nudeln abtrennt.

  »Ja, ziemlich lange.«, antwortet Anette.

  »Was ist passiert.« Laura kann ihre Neugier nicht zügeln.

  »Mein Mann ist vor vielen Jahren gestorben. Kinder hatten wir keine.«, sagt Anette in einem ruhigen Ton.

Laura spürt ein Anflug von Mitgefühlt. 

Anette führt die nächste Gabel zum Mund und kaut ausgiebig. Solange hat Laura Zeit über das gesagte nachzudenken.

  »Das war nicht immer so, wissen sie.«, spricht sie weiter. »Ich war mal eine sehr erfolgreiche Anwältin. Wir hatten ein schönes Zuhause und waren gerade dabei unsere Familie zu planen. Ich wollte schon immer Kinder haben, mindestens drei. Aber dazu ist es nie gekommen. Nach dem Unfall bin ich zusammengebrochen. Ich konnte nicht mehr ohne ihn weiterleben, doch das Leben kommt oft anders als wir denken. Ich bin immer noch hier und durfte so viel dazu lernen.«

  »Aber warum leben sie immer noch auf der Straße?« Ist das Einzige was Laura noch sagen kann.

Anettes Geschichte rührt sie zu Tränen. Was für ein Glück hat sie selbst. Ihre beiden Eltern lebten noch und ihre Geschwister, eine Schwester mit ihrer Familie und ihr kleiner Bruder, der immer noch auf der Suche nach sich selbst ist und den sie oft -auch wenn sie das nie offen zugeben würde- dafür bewundert. Aber was ist mit ihr? Was will sie selbst? Diese Frage kommt ihr erst einmal merkwürdig vor. Wie kommt es, dass sie nie ernsthaft darüber nachgedacht hat. Tag ein Tag aus lebt sie das gleiche eintönige Leben. Sie hat ganz vergessen was Leidenschaft bedeutet, oder Freude. Sie funktioniert und erfüllt ihre Pflicht. Aber war das der Sinn ihres Daseins? Der Gedanke stimmt sie zuerst traurig. War es nötig zuerst diese Frau in ihr Heim zu holen, um überhaupt erst diesen Gedanken wahrzunehmen? Annettes Stimme reißt Laura aus ihren Gedanken.

  »Nun es ist gar nicht so einfach wieder zurück zu finden. Sicherlich habe ich oft daran gedacht, aber der Gedanke in eine leere Wohnung zu kommen, ist für mich schlimmer als auf der Straße zu schlafen.«

Die Frauen unterhalten sich den ganzen Abend. Die Vorstellung Anette wieder auf die Straße zu schicken wird für Laura unerträglich.

  »Kannst du dir vorstellen, dass es kein Zufall war, dass wir uns heute getroffen haben?«, sagt Laura zu später Stunde. 

Anette überlegt nicht lange und antwortet:

  »Ich glaube nicht an Zufälle.«

  »Was würdest du davon halten bei mir einzuziehen? Du wärst nicht allein hier und ich auch nicht.«

Anette, die so etwas nie erwartet hat und auch schon lange nicht mehr soviel Freundlichkeit und Liebe erfahren hat, weint.

Laura nimmt sie in Arm und streichelt ihr über den Kopf.

  »Ist schon gut.«, flüstert sie. »Es wird alles gut.«

Laura richtet für Anette das Gästezimmer ein und legt ihr saubere Kleidung raus. Montag würden sie einkaufen gehen, wenn die Läden wieder geöffnet haben.

  Die Wochen vergehen und Weihnachten steht vor der Tür. Ohne es zu merken verändert sich Laura und auch Anette. Immer mehr geht Laura der Frage von dem einen Abend nach: Was ist der Sinn ihres Darsens? Sie folg der Freude und beginnt immer mehr auf ihre innere Stimme zu hören, die sie liebevoll leitet.

Sie freut sich auf das Weihnachtsfest mit ihrer Familie und Anette wird dieses Mal auch dabei sein. Sie haben das beste Geschenk, das man sich vorstellen kann. Sie haben sich und die tiefe Liebe die sie zu einander empfinden.

  Wenn man an diesem magischen Tag durch das Fenster in ihr Haus sehen würde, würde man eine große glückliche Familie sehen, die miteinander lacht, sich reich beschenkt und zumindest in diesem einen Augenblick glücklich ist.

 

Wir sehen oft nicht die Wunder in unserem Leben und hören auch nicht auf unsere Intuition. Auf diesen einen Impuls, der unser ganzes Leben zu verändern vermag. Und dabei ist es so einfach, wenn wir unserem Herzen folgen und nicht unserer Angst.

15 Gedanken zu „Lauras Weihnachtsgeschichte

  1. Liebe Ellen,
    danke für Deine wunderbare Geschichte und Deinen Mut, damit in die Öffentlichkeit zu gehen! Perfektionsismus (besonders auch bei Hochsensiblen) ist oft ein Hindernis, sich zu zeigen und umso bewundernswerter ist, dass Du Dich traust! Deine Geschichte ist einerseits wunderschön erzählt, andererseits sehr realistisch! Heute verlieren Menschen auch in guten Stellungen ihre Existenz, weil sie den Tod ihres Partners nicht verkraften, zusammenbrechen, zu trinken anfangen oder es einfach nicht mehr schaffen, in die Arbeit zu gehen und nicht aufgefangen werden. Ich kenne eine sehr berührende Geschichte von einem sehr ähnlichen Fall. Wir sollten uns bewusst sein, dass eine kleine Geste oft das Leben eines Menschen in tiefer Armut oder Verzweiflung vollkommen berührt – sie warten darauf, von uns berührt zu werden!

    1. Liebe Andrea,
      Danke für deine Worte. Ich denke, dass wir oft zu früh verurteilen, ohne uns auch nur einen Augenblick Zeit zu nehmen, um die Menschen so zu sehen, wie sie wirklich sind. Mit all ihren Wunden und Verletzungen, die oft dazu führen, dass wir so hart werden. Eine kleine Geste, ein Lächeln kann oft soviel bewirken. Wenn die Menschen sich gesehen fühlen.
      Alles Liebe Dir
      Ellen

  2. Liebe Ellen,
    vielen Dank für diese wunderschöne Geschichte. Auch ich habe beim Lesen geweint.
    Ich freue mich, dass du sie und hoffentlich noch weitere veröffentlichst. Du hast einen sehr angenehmen Schreibstil.
    Herzliche Weihnachtsgrüße aus Nürnberg von Doris

    1. Liebe Doris!
      Es ist für mich so eine Ehre und ich bin unendlich dankbar, dass ich mit meinen Geschichten Dich und so viele Menschen so sehr berühre. Schreiben ist meine größte Leidenschaft und erfühlt mich mit so tiefer Freude. Das Gefühl lässt sich nur schwer in Worte fassen.
      Ich wünsch Dir ein erfülltes und glückliches neues Jahr
      Ellen

  3. Liebe Ellen,
    Ich danke dir von Herzen für diese berührende Geschichte.
    Sie ist wunderschön und beschreibt auf eine tiefe Art und Weise wie wichtig Nächstenliebe ist -für die andere Person, vor allem aber auch für sich selbst. Wie wir uns selbst ein Stück weit transformieren, indem wir jemand anderes an unserem „Glück“ teilhaben lassen.
    Ich wünsche dir und deinen Liebsten und allen Bewohnern dieser Erde ein fröhliches Weihnachtsfest mit Begegnungen, bei denen das ganze Herz von einem warmen Licht erfüllt wird und nach außen strahlen darf. Wie ein Leuchtfeuer der Liebe soll es sich auf der ganzen Welt ausbreiten und Frieden und Segen für die Menschheit bringen.
    In tiefer Liebe und Verbundenheit mit allem was ist, wünsche ich dir, liebe Ellen, alles Gute und danke ich dir für das Glück, das du mit mir geteilt hast.
    Herzlichst,
    Mareike

    1. Liebe Mareike!
      Es ist so wunderschön! Ich danke Dir von Herzen für deine liebevollen Worte.
      Ich wünsche Dir alles Liebe und alles Gute für das neue Jahr.
      In Liebe
      Ellen

  4. Liebe Ellen, als ich anfing deine Weihnachtsgeschichte von Laura zu lesen,waren so ähnliche Gedanken wie folgende in meinem Kopf: „….ja…es sind immer die gleichen Geschichten mit den ewig gleichen Ausgängen…ich weiß jetzt schon das Ende…“ ABER…plötzlich gab es da in mir drin ein Gefühl,das mich so berührt hat,dass ich doch tatsächlich weinen mußte. Es war ein Weinen,das mich glücklich gemacht hat…es waren Freudentränen darüber,dass es solche Geschichten gibt! Freudentränen darüber,dass du solche Geschichten schreiben kannst! Deine Geschichte/-n ist/sind ein Geschenk für die Menschheit und ich wünsche dir weiterhin so eine Fülle an Kreativität und Mut, um deinen Weg zu gehen!
    Vielen lieben Dank dafür und alles Liebe wünscht dir Sabine

    1. Liebe Sabine,
      ich danke Dir von Herzen für deine Nachricht. Und du hast natürlich recht, wenn du sagst, dass sich alle Geschichten ähneln. Wenn man sich so ich wie mit Geschichten beschäftigt, erkennt man das es fast immer um das Selbe geht. Und doch schauen wir Filme, wir lesen Bücher, wir gehen ins Theater. Weil uns diese Geschichten in der Seele berühren und uns an die Liebe in uns und in anderen Menschen erinnern. Es reicht oft nur ein Funke, um ein Feuer zu entfachen. Und manchmal ist das eine Geschichte, die uns erkennen lässt.

  5. Liebe Ellen Deine Entwicklung dass Du jetzt Deine Geschichten veröffentlichst berührt mich am meisten. Gleichzeitig las ich Deine Geschichte mit viel Aufmerksamkeit. Und kann Dir bestätigen Deine Entwicklung ist das Grösste. Ich liebe Deine Geschichte. Und freue mich sehr darüber. Herzlichst Susanne

    1. Liebe Susanne,
      ich danke Dir und freue mich sehr, dass dich meine Entwicklung und meine Geschichten berühren. Es ist mir eine Freude und auch für mich das Größte.

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